Blick in die Historikerwerkstatt: Die Arbeitswelt des Epigraphikers. Historische Hilfswissenschaft und ihre Bedeutung für Geschichte und Wissenschaft – ein römischer Erfahrungsbericht

von Paul Sebastian Moos und Eberhard J. Nikitsch



Zusammenfassung

Die Rubrik „Blick in die Historikerwerkstatt“ führt uns nach Italien an das älteste historische Auslandsinstitut Deutschlands, das Deutsche Historische Institut in Rom (DHI). Seit seiner Gründung im Jahre 1888 erforschen Historiker am DHI die Geschichte und Entwicklung deutsch-italienischer Beziehungen. Auch Dr. Eberhard J. Nikitsch betreibt mit Unterstützung seines studentischen Mitarbeiters Paul Sebastian Moos interkulturelle Forschungsarbeit, insbesondere auf epigraphischer Ebene. In ihrem Beitrag „Die Arbeitswelt des Epigraphikers. Historische Hilfswissenschaft und ihre Bedeutung für Geschichte und Wissenschaft – ein römischer Erfahrungsbericht“ dokumentieren sie einen Teil ihrer Tätigkeit, beschreiben die Arbeitsschritte eines Epigraphikers und verorten ihre Hilfswissenschaft innerhalb der modernen Geschichts- und Kulturwissenschaften. Neben der enormen Bedeutung, welcher der Inschriftenkunde noch immer zukommt, erhält der Leser so einen informativen Einblick in die Arbeitswelt eines Epigraphikers am DHI Rom.

Abstract

The column „Blick in die Historikerwerkstatt“ (A Glance into the Historian’s Workshop) brings us on a journey to Germany’s oldest historical institute abroad, the German Historical Institute (DHI), in Rome, Italy. Since the institute was founded in 1888, historians have been actively at work, researching the history and development of German-Italian relations. Dr. Eberhard J. Nikitsch with the support of his student assistant Paul Sebastian Moos carries out intercultural research, working especially with epigraphic sources. In their report „Die Arbeitswelt des Epigraphikers. Historische Hilfswissenschaft und ihre Bedeutung für Geschichte und Wissenschaft – ein römischer Erfahrungsbericht“ (The Working World of the Epigrapher. The Historical Auxiliary Sciences and Their Significance for Historical and Academic Studies – a Roman Experience Report), the two historians outline their work, describe the various steps an epigrapher goes through, and locate their auxiliary science within modern historical and cultural studies. This report not only underlines the tremendous significance that is assigned to the study of inscriptions, but also provides the reader with an informative overview of the working environment of an epigrapher at the German Historical Institute in Rome.

Résumé

La rubrique « Blick in die Historikerwerkstatt » (« un regard dans l’atelier de l’historien ») nous amène en Italie, plus précisément à l’Institut historique allemand le plus vieux à l’étranger, l’Institut historique allemand de Rome. Dès sa fondation en 1888, les historiens y poursuivent leurs recherches sur l’histoire et le développement des relations italo-allemandes. C’est ici que Dr. Eberhard J. Nikitsch – à l’aide de son assistant-chercheur, l’étudiant Paul Sebastian Moos – entreprend des recherches interculturelles, notamment au niveau de l’épigraphie. Dans leur article « Die Arbeitswelt des Epigraphikers. Historische Hilfswissenschaft und ihre Bedeutung für Geschichte und Wissenschaft – ein römischer Erfahrungsbericht » (« Le monde du travail de l’épigraphiste. Les sciences auxiliaires de l’histoire et leur signification pour l’histoire – un rapport d’expérience de Rome ») les deux chercheurs nous présentent une partie de leurs activités, décrivent les diverses étapes de travail d’un épigraphiste et essayent de démontrer le rôle qu’occupe cette science auxiliaire pour l’histoire ainsi que pour les sciences culturelles en général de nos jours. Tout en mettant en évidence l’énorme importance qu’a encore aujourd’hui l’épigraphie l’article présent nous fournit donc un aperçu informatif sur le monde du travail d’un épigraphiste à l’Institut historique allemand de Rome.

Die Arbeitswelt des Epigraphikers

‹1› Sie spricht mit Dir, höre zu! Wo sie das tut, das geschieht an vielen unterschiedlichen Orten; auf der Straße, in der Kirche, im und am Gebäude, auf dem Friedhof, am Wegesrand. Wovon sie spricht, das sind viele interessante und unterschiedliche Themen; mal redet sie von Menschen, die Bauwerke errichten ließen oder vom Bauwerk selbst, mal spricht sie von Verstorbenen und ihren Taten. An anderer Stelle wiederum gibt sie Weisheiten oder Segenswünsche zum Besten oder berichtet über Geschehenes, Aktuelles und Beabsichtigtes an den Orten, wo sie sich selbst aufhält. Sie hat viel zu sagen und das tut sie überall; die Inschrift.

‹2› Inschriften machen Geschichte an den Orten lebendig, wo sie stattgefunden hat. Im Gegensatz zu anderen Quellengattungen präsentieren sich Inschriften in der Regel frei zugänglich in der Öffentlichkeit und lassen uns an den Ereignissen vergangener Tage teilhaben, ganz ohne die Notwendigkeit eines Geschichtsbuches oder Touristenführers unter dem Arm. Wer wüsste beispielsweise in Rom eindrücklicher vor Augen zu führen, wie weit der Tiber über die Ufer treten kann, als eine kleine steinerne Tafel mit den Worten Huc Tiber accessit set turbidus hinc cito cessit anno domini MCCLXXVII […]1). Durch eine eingemeißelte Markierung an entsprechender Stelle können wir selbst messen, wie weit jeder Einzelne von uns in den Fluten versunken wäre.

‹3› An anderen Stellen in Rom begegnen uns die berühmten Obelisken. Sie ragen an prominenten Stellen der Stadt hoch empor und es stellt sich bisweilen die Frage, woher sie stammen und wer sie an nämlicher Stelle aufstellen ließ und vor allen Dingen, ob der gegenwärtige Platz auch der ursprüngliche Standort ist. Es ließe sich lange in Archiven und Büchern nach der Lösung für diese Fragen suchen, gäbe es nicht die an der Basis der Obelisken angebrachten Inschriften, die uns Rede und Antwort stehen.

‹4› Ein gutes Beispiel, wie inschriftliche Überlieferung Zeitgenössisches festzuhalten im Stande ist, bietet die monumentale Treppe, die zur Kirche S. Maria in Aracoeli auf dem römischen Kapitolshügel führt. Links neben dem Hauptportal der Kirche findet sich die Stiftungsinschrift der Treppe und gibt uns Auskunft über ihre Entstehung und den verantwortlichen Baumeister: Mag(iste)r Lavre(n)ti(us) Symeon Andreotti Andree Karoli fabricator de Roma de regione colupne fu(n)davit p(ro)secut(us) e(st) et co(n)sumavit ut p(ri)ncipal(is) mag(iste)r h(oc) opus scalaru(m) incept(um) anno d(omin)i M° ccc° xl viii die xxv octobris.2)

‹5› Nach diesen Beispielen und dem eingangs formulierten Appell des Hinhörens stellt sich zunächst die Frage, wem man seine Aufmerksamkeit schenkt. Was ist unter einer Inschrift zu verstehen? Nach der Definition von Rudolf M. Kloos sind Inschriften „Beschriftungen verschiedener Materialien – in Stein, Holz, Metall, Leder, Stoff, Email, Glas, Mosaik usw. – die von Kräften und mit Methoden hergestellt sind, die nicht dem Schreibschul- oder Kanzleibetrieb angehören“3).Damit beschreibt Kloos in Abgrenzung zu anderen, enger gefassten Definitionen, was im Allgemeinen das Wesentliche ausmacht, damit von einer Inschrift die Rede sein kann: Es müssen ein wie auch immer gearteter Inschriftenträger vorliegen und natürlich eine Inschrift, die sich auf selbigem befindet. Eine Besonderheit liegt darin, dass die Anfertigung einer Inschrift auf den verschiedenen Trägern unterschiedliche Wege bedingt, die Schrift anzubringen.

‹6› Mit der Epigraphik begegnet uns die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit allen Fragen rund um Inschriften auseinandersetzt und eine ganze Reihe spezifischer Fragestellungen und Arbeitsweisen anwendet, die Inschrift als verlässliche historische Quelle verstehen und deuten zu können.

‹7› Warum die Inschriftenkunde als eine eigenständige Disziplin für die Kenntnis von Inschriften unabdingbar ist, weiß ein jeder nachzuvollziehen, der sich schon einmal an einem in Stein gehauenen Text versucht hat. Unterwegs in der Stadt fällt dem interessierten Laien an der Häuserwand alsbald eine lateinische Inschrift auf und wissbegierig der Informationen, die er dem geschwungenen Text entnehmen kann, wird er vom Tatendrang gepackt – vielleicht sogar mit einem frisch erworbenen Latinum in der Tasche – den Text zu lesen. Aber was ist da los? Die Schrift so verschlungen und verziert, dass die Buchstaben und Worte nur schwer zu entziffern sind. Darüber hinaus Buchstabenkombinationen, die unmöglich einen Sinn ergeben. Zu allem Verdruss fehlt wohlmöglich noch in einer Ecke des Inschriftenträgers ein großes Stück und der Text ist nicht komplett erhalten. Es fällt schwer, die Inschrift zu lesen, vom Verstehen des genauen Inhalts ganz abgesehen. Was nun?

‹8› Auf jeden Fall kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen und desillusioniert den Artikel beiseite zu legen. Abhilfe schafft die Epigraphik. Ihre Aufgabe sieht sie darin, sämtliche Inschriften zu sammeln, diese durch spezifische Methoden inhaltlich, sprachlich sowie schriftkundlich zu untersuchen und ausführlich kommentiert in Editionen zu veröffentlichen.

‹9› Trotz ihrer enormen Relevanz für weite Zweige geisteswissenschaftlicher Forschung, Inschriften als Quelle historischer Erkenntnis für Nachbardisziplinen fruchtbar zu machen, nimmt die Epigraphik als Hilfswissenschaft an den Universitäten einen eher untergeordneten Stellenwert ein. In Kontakt mit dem weiten Feld der Inschriften kommt der Studierende meist nur im Bereich der Antike. Hier sind Inschriften oft die einzige Quelle, die die Geschehnisse vergangener Tage verlässlich tradieren. Es besteht dort eine höhere Notwendigkeit, sich mit dieser besonderen Quellengattung auseinanderzusetzen, als es in späteren Epochen der Fall ist, in denen sich die Überlieferung auf einen breiteren Fundus an Quellengattungen stützt. Aus diesem Grund setzte die Erforschung des antiken Materials früher ein, als es bei der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Epoche der Fall war. Somit ergibt sich eine Unterteilung nach Epochen und mit ihr auch eine Schwerpunktverschiebung hinsichtlich der Ausrichtung. Während sich die römische Epigraphik mehr um inhaltliche Aspekte der Texte kümmert, liegt aus bestimmten Gründen einer der Schwerpunkte der Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bei der Erforschung der Schriftentwicklung.

‹10› Garant und Hort epigraphischer Forschung in Deutschland und Österreich sind die wissenschaftlichen Akademien, an denen die großen Editionsunternehmen angesiedelt sind. Für den Bereich der Antike befindet sich das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) 4) unter internationaler Mitarbeit als die zentrale Anlaufstelle für römische Inschriften in der Obhut der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Daneben gibt es für den Bereich der griechischen Inschriften die Inscriptiones Graecae (IG)5). Bedingt durch den großen Umfang an Material, sind die gedruckten Editionen dieser Reihen oft nicht mehr aktuell und Neufunde, die es auch in heutiger Zeit immer noch reichlich gibt, müssen publiziert werden. Mit der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik6) wurde ein Periodikum geschaffen, das sich das Ziel gesetzt hat, dies zu ermöglichen. Weiterhin gibt es das wichtige Publikationsorgan L’Année épigraphique7), das neben der Veröffentlichung neu gefundener Inschriften auch Hinweise auf Neuerscheinungen und Besprechungen zu bereits bekannten Inschriften bereitstellt.

‹11› Mit diesen wenigen Ausführungen wollen wir den Bereich der Altertumswissenschaften verlassen und den Fokus auf die weniger an den Universitäten in Erscheinung tretende Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit richten. Die maßgebliche Edition, um Inschriften dieser Zeit zu publizieren, ist das Projekt „Die Deutschen Inschriften“ (DI)8). Nach geographischen Gesichtspunkten werden in den einzelnen Bänden verschiedene Regionen, Gebiete und Städte behandelt. Neben lateinischen Inschriften finden sich nunmehr auch solche in deutscher Sprache. Bearbeitungsgebiet sind Deutschland, Österreich und Südtirol. Eine zentrale Anlaufstelle für den Bereich der nachklassischen Epigraphik stellt das Epigraphische Forschungs- und Dokumentationszentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München dar.9) Es finden sich Ankündigungen zu epigraphischen Veranstaltungen und eine umfassende Literaturdatenbank zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften auf der Website.

‹12› Neben den groß angelegten Editionsprojekten an den Akademien gibt es auch Einzelprojekte, bei denen ein Inschriftenfundus, der sich auf einen enger gefassten Bezugsrahmen erstreckt, behandelt wird. Ein solches Editionsvorhaben bildet die Bearbeitung des Inschriften-Korpus der Kirche Santa Maria dell’Anima in Rom (auch kurz Anima genannt).

‹13› Die unweit der Piazza Navona gelegene Kirche Santa Maria dell’Anima zählt seit dem späten Mittelalter neben dem Campo Santo Teutonico zu den zentralen Anlaufstellen für Reisende in Rom, insbesondere für Pilger aus dem nordalpinen Raum bzw. dem Heiligen Römischen Reich. Die Gründung geht auf eine in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts getätigte Stiftung zurück. 1399 bestätigte Papst Benedikt IX. das inzwischen entstandene Hospital und im Mai 1406 wurde die Stiftung in einem päpstlichen Privileg direkt dem Heilige Stuhl unterstellt.

‹14› Das Päpstliche Institut Santa Maria dell’Anima und das DHI in Rom haben mittlerweile damit begonnen, wichtige Quellen zur Geschichte des Hospitals und der Kirche zu erschließen und erstmals zu veröffentlichen.10) In der Projektbeschreibung im Internet heißt es hierzu: „Inschriften sind historische Quellen ersten Ranges. Sie unterscheiden sich von anderen Quellen wie etwa Urkunden oder Chroniken durch ihren hohen Grad an Öffentlichkeit, die der Konzeption und Ausführung der Texte zugrunde liegt. Ziel des Projektes ist die Erstellung eines chronologisch geordneten Katalogs, in dem alle sowohl heute noch vorhandenen, als auch die verschollenen, nur mehr in Abschriften oder Nachzeichnungen überlieferten Inschriften der Anima erfasst werden.“11) Aufgenommen werden neben auf Grabplatten und Epitaphien angebrachten Grabinschriften aus dem 15. Jahrhundert, die zumeist für Kleriker und Laien aus dem Heiligen Römischen Reich gefertigt wurden, noch „Weihe-, Bau- und Stifterinschriften, Inschriften auf Wand-, Tafel- und Glasmalerei, auf vasa sacra, Paramenten und auch auf Glocken.“12)

‹15› Der wissenschaftlich kommentierte Katalog ist nach dem Vorbild der Bände der interakademischen Editionsreihe „Die Deutschen Inschriften“ erstellt worden und „wird erstmals ein (zumindest annähernd) vollständiges Bild des ursprünglichen Bestandes [...] bieten, der dann für weitere historische Fragestellungen zur Verfügung steht. Im Mittelpunkt dieser wissenschaftlichen Edition steht die genaue Wiedergabe der zum Teil schwer zu entziffernden Texte unter Auflösung der Abkürzungen. Damit verbunden ist die Dokumentation der kunstgeschichtlich oftmals bedeutenden Inschriftenträger. Knappe Beschreibungen der Objekte ergänzen die reine Textedition und vermitteln den zum Verständnis notwendigen Zusammenhang zwischen Text, Inschriftenträger und Standort. Die Inschriften werden übersetzt und im anschließenden Kommentar werden sie und die die Inschriftenträger betreffende Fragen erörtert. Ergänzt wird der Katalog durch einen reichhaltigen Abbildungsteil [...].“13)

‹16› Es präsentiert sich also ein reichhaltiger Bestand unterschiedlicher Inschriftengattungen aus mehreren Jahrhunderten, den es systematisch zu erfassen und aufzuarbeiten gilt. Die praktische Tätigkeit des Epigraphikers gestaltet sich vom ersten Recherchieren bis zum Erstellen der Edition als eine vielschichtige und abwechslungsreiche Tätigkeit. Bevor die eigentliche epigraphische Feldarbeit anfängt, ist es auch für den Inschriftenkundigen notwendig, den historischen Bezugsrahmen zu kennen, in dessen Kontext die Inschriften stehen. Am Anfang steht der Überblick, bevor der Epigraphiker seiner Liebe zum Detail freien Lauf lassen kann. Das Einlesen in die einschlägige Literatur zur Geschichte der Kirche gibt einen ersten Eindruck des zu erwartenden Umfangs. Viele der an der Anima beheimateten Kleriker waren in verschiedenen hohen Funktionen an der Kurie tätig. Die bislang dazu erschienene Literatur ist ebenfalls notwendige Lektüre.

‹17› Einer der ersten Schritte, den der Epigraphiker gehen muss, führt ihn an den Ort des Geschehens oder vielmehr an den Ort, wo von Geschehenem berichtet wird. Die Autopsie der Inschriften, die persönliche Inaugenscheinnahme, steht an oberster Stelle. Jetzt werden der Inschrift und dem Inschriftenträger alle Informationen entlockt, die später wichtig sind, um am heimischen Schreibtisch mit der Arbeit fortfahren zu können. Neben einem geschulten Auge ist eine ganze Reihe von praktischen Utensilien nötig. Zunächst wird der Text der Inschrift detailgenau abgeschrieben. Die Transkription sollte das Schriftbild so exakt wie möglich wiedergeben. Mit einem Foto der mitgebrachten Digitalkamera ist es heutzutage leichter geworden, seine Abschrift nachträglich zu überprüfen. Zum transkribierten Text gesellen sich dann die Daten über Zeilenabstand, Buchstabengröße und Maße des Inschriftenträgers. Nicht das Maßband vergessen!

‹18› Bisweilen besteht der Inschriftenträger nicht aus einem Stück, sondern ist Teil eines aus mehreren Partien bestehenden Monuments. Vor allem so gehalten bei Grabdenkmälern herausragender Persönlichkeiten, bietet sich ein eindrückliches Beispiel in der Anima am Grabmonument von Papst Hadrian VI. Es befindet sich an der rechten Wand des Chores und nimmt einen Großteil der Fläche ein. Die Beschreibung der Gesamtkomposition, in die sich die Inschrift einfügt, vervollständigt die Vorarbeiten vor Ort.

‹19› Nicht zu vergessen ist die Beachtung des derzeitigen Standortes. Eine Inschrift ist ein für ein bestimmtes Ereignis konzipiertes und geschaffenes Unikat, das seine wahre Bedeutung nur an dem für sie vorgesehenen Platz entfalten kann. Die Tragweite der Überlegungen zum richtigen Standort wird ersichtlich, wenn wir uns an das eingangs erwähnte Beispiel der Hochwassersmarke vom Tiber erinnern. Ursprünglich im Jahr 1277 an anderer Stelle angebracht, kam sie erst später an ihren heutigen Platz. Das Wissen um das einstige Tiberhochwasser wird davon nicht berührt, aber die Markierung hat natürlich nur noch bedingte Aussagekraft. Neue Zeiten setzen neue Maßstäbe, bewerten Dinge anders. Es kommt immer wieder vor, dass Vergangenes Neuem Platz machen muss. In Santa Maria dell’Anima zeigt sich das durch eine Vielzahl an Grabdenkmälern, die von ihrer eigentlichen Lage entfernt wurden, um andere an ihrer statt dort zu positionieren. Dem Epigraphiker stellt sich somit immer die Frage nach dem originären Standort.

‹20› Manchmal findet sich eine Inschrift auf dem Kirchenboden. Schon tausende Füße liefen über sie und dementsprechend abgetreten ist es um die Schrift bestellt. Mit Mühe erkennt man vielleicht noch die Umrisse der Buchstaben und kann vage erahnen, was da geschrieben steht. In anderen Fällen versteckt sich die Inschrift in der hintersten dunklen Ecke einer Kirche, Sonnenlicht oder elektrischer Strom sind dort selten bis nie anzutreffen. Sehr schwer wird es dann, auf dunklem Stein dunkle Schriftzeichen zu entziffern. In beiden Situationen weiß sich der Epigraphiker sich mit einer Taschenlampe zu helfen. Durch den richtigen Winkel des Lichtstrahls entsteht ein scharfer Kontrast und die Erkennbarkeit der Buchstaben steigert sich enorm. Muss ein Epigraphiker Berge versetzen können? Das wäre wohl übertrieben, aber die ein oder andere inschriftliche Entdeckung macht man unter Altardecken, Kirchenbänken oder an der Wand hinter Beichtstühlen.

‹21› Ein weiterer Schritt ist die literarische Recherche nach verschollenen Inschriften. Aus Platzmangel oder aus Gründen der Renovierung wurden immer wieder alte, beschädigte oder in zeitgenössischer Betrachtung ‚unwichtige‘ Grabdenkmäler aus den Kirchen entfernt. Ein wichtiges Hilfsmittel bieten ältere Inschriftensammlungen. Diese beinhalten aber oft nur den (lateinischen) Text einer Inschrift ohne Auflösung der Abkürzungen, Übersetzung und Kommentar und können heute nicht mehr den modernen wissenschaftlichen Standards genügen, die der Epigraphiker seiner Edition zu Grunde legt. Dennoch besitzen sie einen hohen Wert für die editionstechnische Arbeit. Es finden sich in ihnen Inschriften, die inzwischen verschollen und nicht mehr aufzufinden sind. Auch besteht die Möglichkeit, dass dem Autor einer solchen Sammlung selbst kopiale Quellen zur Verfügung standen, die heute ebenfalls nicht mehr existieren. Stellvertretend sei hier die Publikation aller stadtrömischen Inschriften des Bibliothekars Vincenzo Forcella zu nennen, in dessen drittem Band sich die Inschriften der Anima befinden.14)

‹22› Eine weitere Facette abwechslungsreicher epigraphischer Tätigkeit und um weitere nur mehr abschriftlich überlieferte Inschriften zu finden, die keinen Einzug in diverse Inschriftensammlungen gefunden haben, ist die Arbeit in Archiven. In Rom verwahren vor allem die Biblioteca Apostolica Vaticana und das Archiv der Anima solche kopialen inschriftlichen Überlieferungen, die für die Bearbeitung des Inschriften-Korpus wichtig sind.

‹23› Neben der Möglichkeit, als studentischer Projektmitarbeiter bei der Digitalisierung von Inschriftenpublikationen der DI-Reihe tätig zu sein, bot sich mir im Rahmen des Projektes zum Inschriften-Korpus der Kirche Santa Maria dell’Anima die Gelegenheit, hilfswissenschaftlich tätig zu werden. Der Aufgabenbereich erstreckte sich von der unterstützenden Tätigkeit der Übersetzung und Kommentierung des Inschriftenkorpus bis hin zur eigenständigen Bearbeitung zwölf spätantiker römischer Inschriften, die sich in der Kirche vorfanden. Am Anfang aber galten die ersten Schritte des noch unkundigen Neulings auf dem Feld der Epigraphik dem Einlesen in Methodik und Arbeitsweise des Fachs. Wer sich schon vorab den Einstieg erleichtern möchte, sollte seine Kenntnisse der lateinischen Sprache stets frisch halten. Das ist keine Garantie dafür, den verwirrenden Text manch einer Inschrift auf Anhieb erfassen zu können, doch erleichtert es die Arbeit sehr, wenn man sich dann auf schriftkundliche und inschriftenspezifische Aspekte konzentrieren kann.

‹24› Großen Raum in der Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nimmt die Beschäftigung mit der Schrift und ihrer Entwicklung ein. Vor allem in diesen Bereich sollte der interessierte Einsteiger einige Zeit investieren. Kenntnisse von Schreibstilen und regionalen Besonderheiten oder Standards befähigen dazu, eine Inschrift als interpoliert, d.h. Fälschung herauszustellen oder ihre Echtheit zu belegen. Die heute im linken Seitenschiff der Anima liegende Grabplatte des aus Nordhausen in Thüringen stammenden Rota-Notars Dr, Johannes Sander, die im Schriftbild eine Barock-Kapitalis zeigt, wie sie Mitte des 18. Jahrhunderts üblich war, aber laut Todesjahr aus dem Jahr 1544 stammen soll, zeigt zweifelsohne, dass die originale Grabplatte nicht mehr existiert und hier nur eine neugestaltete Kopie vorliegt. Um die Unterschiede der einzelnen Schriften exakt erkennen und beschreiben zu können, ist es hilfreich, sich das Fachvokabular anzueignen. Als gutes Hilfsmittel erweist sich dabei die von den Epigraphikern der Akademien der Wissenschaften erarbeitete Terminologie zur Schriftbeschreibung.15)

‹25› Eine Hürde beim flüssigen Lesen von Inschriften stellen platzsparende Maßnahmen dar, kurz gesagt: Abkürzungen. Ohne entsprechende Vorkenntnisse fällt es sehr schwer, sich in die gängigen Abkürzungspraktiken jener Zeiten hineinzudenken. Hier gibt es aber in den meisten Einführungswerken Listen der gängigsten Abkürzungen. In der Regel zeigen Kürzungszeichen auf dem Inschriftenträger die Abkürzungen an. Einen Überblick über Kürzungszeichen findet sich ebenfalls in der o. g. Terminologie.

‹26› Empfehlenswerte Werke, die bei einem Einstieg in die epigraphische Welt gute Wegbegleiter sind, haben Manfred G. Schmidt16) und Ernst Meyer17) für römische Epigraphik und Rudolf M. Kloos für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Epigraphik18) vorgelegt.

‹27› Ein junges Hilfsmittel, das die Recherche nach Inschriften erleichtert und beschleunigt, bieten Datenbanken. Für den Bereich der Alten Geschichte gibt es eine Reihe von separaten Datenbankprojekten, die im Rahmen der Datenbankförderation Electronic Archives of Greek and Latin Epigraphy (EAGLE)19) untereinander vernetzt jeweils verschiedene Schwerpunkte haben. Die maßgebliche Trias dieser Datenbanken sind allen voran die Epigraphische Datenbank Heidelberg (EDH)20), die Epigraphic Database Rome (EDR)21) und die Epigraphic Database Bari (EDB)22). Daneben gibt es bei der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften zu der oben schon erwähnten Arbeitsstelle des CIL eine dazugehörige Datenbank. 23)

‹28› Für den Bereich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften gibt es im Internet eine zentrale Anlaufstelle. Das Projekt Deutsche Inschriften Online (DIO)24) hat das Bestreben, sämtliche Bände der DI-Reihe zu digitalisieren und im Internet zu präsentieren. Möglichkeiten, die sich aus der Bereitstellung des Materials im Internet ergeben, sind zum einen die Vergleichbarkeit einer Großzahl an Inschriften aus verschiedenen Teilen der Bearbeitungsgebiete, die es erleichtert, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Inschriftenträger und Schriftformen zu erkennen.

‹29› Interessiert fiel uns zu Beginn die Inschrift auf, die zu uns spricht. Hellhörig geworden lauschten wir ihren Erzählungen. Alsbald mussten wir feststellen, dass es einige Schwierigkeiten bereitete, die erhaltenen Informationen richtig zu verstehen. Ihre Ausdrucksweise war fremd, Wortkürzungen die Regel, das Schriftbild bisweilen kaum zu deuten. Schriftart gegen Jahreszahl; wir wurden sogar in die Irre geführt. Doch es braucht der interessierte Laie nicht zu verzweifeln, dem der Epigraphiker zur Seite steht. Als Dolmetscher weiß er, die Sprache der Inschriften zu verstehen. Schriftkundig ist er fähig, das inschriftliche Material zu lokalisieren und zu datieren. Damit gibt er anderen Historikern und Kunsthistorikern, die im Rahmen ihrer Forschung auf Inschriften angewiesen sind, die Möglichkeit, Inschriften als reichhaltige Quelle nutzen zu können.

Literatur

  • Buchowiecki, Walther: Handbuch der Kirchen Roms. Bd. 2, Wien 1970.
  • Deutsche Inschriften: Terminologie zur Schriftbeschreibung. Wiesbaden 1999.
  • Forcella, Vincenzo: Iscrizioni delle chiese e d’alteri edificii di Roma dal secolo XI fino al giorni nostri, 14. Bde, Rom 1869-1884.
  • Kloos, Rudolf M.: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2. Aufl. 1992.
  • Meyer, Ernst: Einführung in die lateinische Epigraphik, Darmstadt 2. Aufl. 1983.
  • Nikitsch, Eberhard J.: Projektbeschreibung unter www.dhi-roma.it/1007.html (Zugriff 02.05.2012).
  • Schmidt, Manfred: Einführung in die lateinische Epigraphik, Darmstadt 2. Aufl. 2011.

Fußnoten

  1. Vgl. dazu Buchowiecki, Walther: Handbuch der Kirchen Roms. Bd. 2, Wien 1970, S. 488. »
  2. Forcella, Vincenzo: Iscrizioni delle chiese e d’alteri edificii di Roma dal secolo XI fino al giorni nostri Bd. 1 . Roma 1869, S. 127, Nr. 453. »
  3. Kloos, Rudolf M.: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Darmstadt ²1992, S. 2. »
  4. http://cil.bbaw.de/ (Zugriff 02.05.2012). »
  5. http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/ig/de/Startseite/ (Zugriff 02.05.2012). »
  6. http://ifa.phil-fak.uni-koeln.de/8059.html (Zugriff 02.05.2012). »
  7. http://www.anneeepigraphique.msh-paris.fr/ (Zugriff 02.05.2012). »
  8. http://www.inschriften.net (Zugriff 02.05.2012). »
  9. http://www.epigraphica-europea.uni-muenchen.de/ (Zugriff 02.05.2012). »
  10. Siehe zu den folgenden Ausführungen auch die Projektbeschreibung unter http://www.dhi-roma.it/1007.html (Zugriff 02.05.2012). »
  11. Nikitsch, Eberhard J.: Projektbeschreibung unter http://www.dhi-roma.it/1007.html (Zugriff 02.05.2012). »
  12. Nikitsch, Eberhard J.: Projektbeschreibung unter http://www.dhi-roma.it/1007.html (Zugriff 02.05.2012). »
  13. Nikitsch, Eberhard J.: Projektbeschreibung unter http://www.dhi-roma.it/1007.html (Zugriff 02.05.2012). »
  14. Forcella, Vincenzo: Iscrizioni delle chiese e d’alteri edificii di Roma dal secolo XI fino al giorni nostri, 14. Bde, Rom 1869-1884. »
  15. Deutsche Inschriften: Terminologie zur Schriftbeschreibung. Wiesbaden 1999. »
  16. Schmidt, Manfred: Einführung in die lateinische Epigraphik, Darmstadt 2. Aufl. 2011. »
  17. Meyer, Ernst: Einführung in die lateinische Epigraphik, Darmstadt 2. Aufl. 1983. »
  18. Siehe Kloos, S. 2. »
  19. http://www.eagle-eagle.it/ (Zugriff 02.05.2012). »
  20. http://www.uni-heidelberg.de/institute/sonst/adw/edh/ (Zugriff 02.05.2012). »
  21. http://www.edr-edr.it/Italiano/index_it.php (Zugriff 02.05.2012). »
  22. http://www.edb.uniba.it/edb/ (Zugriff 02.05.2012). »
  23. http://cil.bbaw.de/dateien/datenbank.php (Zugriff 02.05.2012). »
  24. http://www.inschriften.net (Zugriff 02.05.2012). »
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Autoreninformation

Paul Sebastian Moos ist Student der Geschichte und der klassischen Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Studiengang Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien.

Dr. Eberhard J. Nikitsch ist hauptamtlicher Mitarbeiter der Inschriften-Kommission der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Zurzeit bearbeitet er in einem Einzelprojekt des Deutschen Historischen Instituts in Rom den Inschriften-Korpus der Kirche Santa Maria dell’Anima.

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Paul Sebastian Moos und Eberhard J. Nikitsch: Blick in die Historikerwerkstatt: Die Arbeitswelt des Epigraphikers. Historische Hilfswissenschaft und ihre Bedeutung für Geschichte und Wissenschaft – ein römischer Erfahrungsbericht, in: Skriptum 2 (2012), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2012050312, Abs. XY [Datum des Zugriffes].